Für jemanden da sein
Wenn sich der Mensch die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, so fragt er meistens: "Wozu lebe ich?" Es könnte aber sein, dass genau diese Frage die falsche ist. Denn unser Dasein ist so gestrickt, dass uns das Leben nicht für etwas, sondern für jemanden gegeben wurde. Die Bibel ist von Anfang an davon überzeugt: "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt" (Gen 2,18). Auch die Tatsache, dass wir von der Geburt an auf die Fürsorge der Anderen angewiesen sind, bestätigt das. Richtigerweise sollte die Frage nach dem Sinn des Lebens eher lauten: "Für wen lebe ich?". Diese Frage lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und wir können darauf unsere Antworten privaten oder existentiellen Charakters geben. Für uns, die wir die Jungfrau Maria verehren und unsere Lebensinspiration aus ihrem Lebenszeugnis schöpfen, fällt es nicht schwer zu sehen, für wen Maria gelebt hat, für wen sie da war. Ohne allzu viel im Leben Mariens nachbohren zu müssen, könnten wir sagen, dass sie für Gott gelebt und für ihn da war. Diese Antwort wäre allerdings wenig hilfreich, wenn wir daraus eine Inspiration für unseren Alltag suchen sollten. Denn es geht darum, unsere Beziehung zu Gott konkret zu gestalten. Und das funktioniert nur, wenn wir in diese Beziehung andere Menschen einbinden, in denen und mit denen wir Gott erfahren.
Im Leben Mariens finden wir eine Reihe von Menschen, denen sie ihre Zeit, Liebe und Lebensenergie schenkte. Wir wissen von ihrer Beziehung zum Tischler Josef. Diese Beziehung mit Josef war der Weg, auf dem sie die Erfüllung und den Sinn ihres Lebens sah. Und diesen Weg ist sie auch gegangen als Lebensgefährtin und Ehefrau. Mit Josef nahm sie das Kind an, welches ihnen von Gott anvertraut wurde. Mit Josef erfüllte sie ihre Erziehungsaufgabe gegenüber Jesus. Nachdem Josef ab gewissem Zeitpunkt in den Evangelien nicht mehr erwähnt wird, verlagert sich für Maria auch ihr Lebenssinn. Dieser wird nicht mehr vorrangig von Familienverhältnissen, sondern durch neue Bezugspersonen definiert, für die sie lebt. Sie lebt für Jesus, in dem sie nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihren Meister im Glauben sieht, und für seinen Jüngerkreis. Die Beziehung Mariens mit den Jüngern Jesu bekommt eine stärkere Ausdrucksweise unter dem Kreuz, als sie die Worte Jesu hört: "Siehe, dein Sohn" (Joh 19,26). Diese Worte bedeuten für Maria einen neuen Auftrag, aus dem sich für sie ein Lebenssinn mit neuer Dimension erschließt: Sie soll von nun an für die Jünger Jesu leben und da sein. Sie intensiviert daher ihre Beziehungen mit den Aposteln und mit den Sympathisanten der Frohbotschaft Christi (vgl. Apg 1,14). In unserer Zeit ist es nicht mehr selbstverständlich, dass man für jemanden lebt und da ist, und zwar kontinuierlich, jeden Tag von neuem. Bindungen fürs ganze Leben werden immer seltener. Man bevorzugt Partnerschaften ohne Verpflichtungen, Ordensleben auf Zeit, befristete Volontariate. Ohne eine regelmäßige und langfristige Beziehungskultur ist es schwierig zwischen den Personen ein stabiles Verhältnis aufzubauen, in dem sich das Klima des Vertrauens, der Wertschätzung, Verlässlichkeit und Solidarität entfalten kann. Menschen, die das Leben auf irgendeine Weise miteinander teilen, brauchen solches Klima. Für jemanden da zu sein bedeutet auch, nicht für alle da sein zu können. Es liegt in menschlicher Natur sich im Leben exklusiv für jemanden zu entscheiden, d.h. für einzelne Menschen (Lebensgefährter/in) bzw. eine überschaubare Menschengruppe (Familie, Ordensgemeinschaft oder andere Formen von Gemeinschaften, die eine langfristige Bindung voraussetzen), für die ich von nun an da bin. Die Konsequenz dieser Entscheidung aber ist, dass ich den anderen Beziehungen, die in meinem Leben sein werden und dürfen, nicht mehr die Qualität einer exklusiven Beziehung anbieten kann, d.h. sie haben für mich nicht die Priorität und sollten keine Nachteile für meine exklusiven Beziehungen mit sich bringen. In Hinblick auf Maria berichtet uns die Heilige Schrift nur von den "exklusiven" Bezugspersonen, für die sie ohne Befristung da war: Josef, Jesus und seine Jünger. Zu den nicht-exklusiven Beziehungen könnten wir ihre Verwandtschaft zählen, von denen nur der zeitlich befristete Besuch bei ihrer Tante Elisabeth Erwähnung findet. Mit diesen Gedanken möchte folgendes angeregt werden: Schaffen wir uns einen Überblick über die Zeit, die wir unseren Beziehungen widmen und bemühen wir uns um eine ehrliche Antwort, ob unsere Zeit mehr in die exklusiven oder nicht-exklusiven Beziehungen fließt. fr. Fero M. Bachorík OSM |